All die guten Ratschläge

Seit einiger Zeit liest und hört man sie immer häufiger – Empfehlungen und gute Ratschläge, wie man sich in einer Notwehrsituation verhalten solle. Aus berufenen und unberufenen Mündern.

Ich will hier einmal einige dieser Empfehlungen auflisten (und im Laufe der Zeit auch weiter ergänzen) und mich dazu äußern.

  • Schaffen Sie Öffentlichkeit, sprechen Sie Umstehende direkt an, bitten Sie um Hilfe!

    Wie bei allen Empfehlungen, die noch folgen, sollte man sich bewusst machen, dass es sich um fantasierte Szenarien handelt. Die wirkliche Wirklichkeit wird im konkreten Einzelfall immer eine verblüffend andere sein.

    Notwehrsituationen zeichnen sich in der Regel dadurch aus, dass der Täter die Öffentlichkeit scheut. Antisoziale Gewalt geschieht – anders als soziale Gewalt, die häufig laut und auf sichtbare Wirkung aus ist – meist im Verborgenen.

    (Seit den Geschehnissen zu Silvester hat sich das – vor allem in der Rezeption dessen, was da geschehen ist – etwas verändert.)

    Wenn Sie aber tatsächlich nicht ganz allein und andere Menschen zugegen sind, dann: Schaffen Sie Öffentlichkeit! Machen Sie deutlich, dass Sie bedroht werden und sprechen Sie Umstehende auch direkt und zielgerichtet an.

    Je mehr Menschen zugegen sind, desto geringer ist allerdings die Wahrscheinlichkeit, dass Ihnen jemand hilft. Ein erstaunliches, psychologisch begründbares, gut untersuchtes Phänomen.

    Auch werden Menschen, die liebend gerne helfen würden, Ihnen oft nicht helfen, weil sie wissen, dass sie genauso hilflos sind wie Sie.

    Und Eigensicherung geht verständlicherweise vor. Das ist nicht immer mangelnde Zivilcourage, sondern oft einfach gesunder Menschenverstand.

    Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie von nahkampferprobten Einzelkämpfern umgeben sind, ist eher gering. Eine Aufforderung zur Hilfeleistung wird da von dem oft bemühten „Sie-da-mit-der-blauen-Jacke-Mann” gerne einmal überhört.

    So wie auch laute Rufe (Hilfe, Feuer, es brennt) oder schrillender Alarm. Anfallsweise Taub- und Blindheit.

    Die Realität – ohne Augenwischerei – ist am ehesten diese.

    Sich auf die Hilfe von anderen verlassen zu MÜSSEN, ist nicht das angenehmste Gefühl. Je weniger Sie auf die Hilfe anderer ANGEWIESEN sind, desto freier lebt es sich.

  • Laufen Sie weg!

    Wenn Sie weglaufen können: LAUFEN SIE WEG! Das ist fast immer das Allerbeste, was Sie machen können.

    Oft aber werden Sie gar nicht weglaufen KÖNNEN.

    Sei es, dass die Türen verschlossen sind (weil der Täter sie zuvor verschlossen hat), dass Sie Ihr kleines Kind an der Hand haben, dass Sie sich just gestern den Fuß verknackst haben – da gibt es viele denkbare Gründe.

    Um in einer Notwehrsituation handlungskompetent zu sein, brauchen Sie mehr als Ihre Füße.

    Wenn Ihnen jemand das Weglaufen als allein seligmachende Maßnahme verkaufen möchte, fragen Sie nach:

    Was tue ich denn, wenn ich nicht weglaufen KANN?

  • Nehmen Sie einen festen Stand ein, rechtes oder linkes Bein vor, Gewicht nach vorn oder nach hinten, die offenen Hände nach vorn gestreckt, den Körper ausgerichtet …

    Auch hier: fantasierte Szenarien. Aus Kampfsportkontexten unreflektiert auf die eher unsportliche Wirklichkeit übertragen. Standardantworten auf Fragen, die sich meistens gar nicht stellen.

    Eine offene Hand ist zugegebenermaßen besser als eine zur Faust geballte. Meines Erachtens lädt das oft gezeigte vermeintlich friedliche Weit-nach-vorne-Strecken der Arme aber immer noch eher zum Kampf ein, als dass es einen solchen vermeiden hilft. Wenn es körperlich wird, brauchen Sie diese Vorkampfstellung nicht.

    Alles, was man bewusst mit seinem Körper anzustellen versucht, erfordert eine hohe Bewusstheit. Den meisten Menschen ist der eigene Körper für eine bewusste Ausrichtung zu fremd.

  • Strahlen Sie Selbstbewusstsein aus!

    Selbstbewusstsein kann man nur ausstrahlen, wenn man selbstbewusst IST.

    Wenn man selbstbewusst ist, ist das Letzte, woran man denkt: Selbstbewusstsein „auszustrahlen”.

    Einem selbstbewussten Menschen ist es herzlich egal, ob andere ihn für selbstbewusst halten.

    Selbstbewusstsein kann man nicht FAKEN.

    Selbstbewusstsein, das man spielt, fällt beim ersten Belastungstest in sich zusammen.

    Darüber hinaus haben die meisten Menschen, denen es an Selbstbewusstsein mangelt, eine merkwürdig falsche Vorstellung davon, wie sich Selbstbewusstsein körperlich äußert.

    Die oft beschworene „aufrechte Haltung”, die auf bewusster Kontraktion der äußeren Muskulatur beruht, zeugt nicht von Selbstbewusstsein, sondern von Angst.

    Und Angst ist ein schlechter Ratgeber.

    Kümmern Sie sich weniger darum, Selbstbewusstsein auszustrahlen – werden Sie selbstbewusster, indem Sie handlungskompetenter werden.

  • Achten Sie auf das, was um Sie herum geschieht!

    Das ist ein sehr vernünftiger Ratschlag.

    Betrunken über die Straße zu torkeln, Kopfhörer über die Ohren gestülpt, taub und blind für das, was ringsherum geschieht, das empfiehlt sich wirklich nicht.

    Ein Täter, der auf der Suche nach einem Opfer ist, wünscht sich eine solche, von allen guten Geistern verlassene Beute.

    Trunkenheit sollte man auf Situationen und Orte beschränken, in denen man von Menschen umgeben ist, denen man vertraut.

    Eine verrufene Kneipe, in der es bekanntermaßen an jedem Wochenende zu Schlägereien kommt, ist kein solcher Ort. Viele Männer, wenige Frauen, sehr viel Alkohol – eine eher explosive Mischung.

    Ein Platz, auf dem Menschen mit Feuerwerkskörpern auf andere Menschen schießen, auch hier sollten Sie Ihren Gefühlen und Ihrer Intuition trauen.

    Ihre Intuition wird Sie wissen lassen: Hier ist es zu gefährlich.

    Verlassen Sie solche Orte – so es Ihnen noch möglich ist (!) – so schnell es geht.

    Und überlegen Sie sich auch IM VORHINEIN, welchen (voraussichtlichen und wahrscheinlichen) Gefahren Sie sich aussetzen mögen.

    Da mag die verbriefte bürgerliche Freiheit manchmal auf der Strecke bleiben – ich empfehle Ihnen, sich um gesellschaftliche Fragen zu kümmern, NACHDEM Sie sich in Sicherheit gebracht haben.

    Die Straßenseite zu wechseln, statt sich den Weg durch einen Pulk gewaltverliebter Jungmänner zu bahnen – auch dazu dürfte Ihnen Ihre Intuition raten.

    Gerade Männern fällt das manchmal ziemlich schwer. Haben Sie den Mut, feige zu erscheinen. Sich ohne Not Gefahren auszusetzen, die man nicht selbst gewählt hat, ist nicht mutig, sondern dumm.

  • Tragen Sie Pfefferspray mit sich!

    Dazu habe ich mich in diesem Blogpost ausführlich geäußert. Ich sehe keine Veranlassung, meine Meinung zu ändern.

  • Komplexe Kampfsporttechniken

    Auch hierzu habe ich mich in mehreren Blogposts geäußert.

    Das Wichtigste in Kürze:

    Fein- und komplexmotorische Bewegungen (Fine and Complex Motor Skills), die die Grundlage der meisten Kampfkünste und Kampfsportarten bilden, funktionieren im Training und im sportlich fairen Wettkampf wunderbar, in Hochstress-Situationen, in denen Sie Angst um Ihre Gesundheit oder Ihr Leben haben, funktionieren sie nicht.

    In solchen Situationen beschränkt der Körper sich − auch wenn Sie jahrelang eifrig die ausgeklügeltsten Bewegungen trainiert haben − aufs Grobmotorische (Gross Motor Skills).

    Die grobmotorischen Bewegungen (Gross Motor Skills), die der adrenalingeflutete Körper noch auszuführen vermag, beherrscht jedes Kind. Die müssen Sie nicht gesondert trainieren. Die „trainieren” Sie jeden Tag.

    In Unkenntnis der physiologischen und neurologischen Gegebenheiten, was fein-, komplex- und grobmotorische Fertigkeiten in Notwehrsituationen betrifft, werden in den meisten „Selbstverteidigungskursen”, die auf Kampfsport und Kampfkunst basieren, gerade solche Bewegungen vermittelt.

    Wenn´s nicht um so viel ginge, wär´s bloß ein Witz.

  • Wehren Sie sich!

    In einer Notwehrsituation sollten Sie diesen Rat beherzigen.

    In einer Notwehrsituation (und ich spreche hier nur von dieser, also von einem Angriff auf Leib und Leben, nicht von sexistisch motivierten Belästigungen) gibt es nur eine Reaktion, die sich sinnvoll begründen lässt: sich konsequent zu wehren!

    Die Entscheidung, sich zu wehren, sollten Sie schon IM VORHINEIN getroffen haben. Vielleicht sogar gerade jetzt.

    Entscheidungsgrundlagen finden Sie hier: Sich wehren oder lieber nicht?

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